Prostitution = Emanzipation

Dass man als Prostituierte nicht frei und unabhängig sein könne, dass man sich nicht guten Gewissens dafür entscheiden könne – das höre ich nur all zu oft. Ich habe deshalb einen Artikel darüber geschrieben, dass die Entscheidung für die Prostitution auch ein emanzipatorischer Schritt sein kann.


Prostitution als sexuelle Emanzipation der Frau.
Die Befreiung von einem Mythos.

Eine Bekannte monierte neulich, Prostitution sei durch ihre Abhängigkeit vom Gelde der Inbegriff unfreier Sexualität. Ich intervenierte. Erstens seien Prostitutierte nicht allein aufgrund der Existenz eines Geldflusses automatisch auch von diesem Gelde abhängig. Und zweitens bedeute Abhängigkeit vom Gelde nicht automatisch auch ein unfreies Arbeiten. Im anderen Falle wäre jeder Arbeiter in einer vom Geld regierten Welt unfrei. Dies kann man im Sinne einer Kapitalismuskritik freilich so sehen. Doch ist es eine außerordentlich polemische Behauptung, die jeden Menschen, der gerne und selbstbestimmt in seinem Job arbeitet und diesen als Erwerbstätigkeit betreibt, vor den Kopf stoßen muß.

Sicherlich ist es, trotz Legalisierung der Prostitution, nach wie vor so, dass viele, wenn nicht sogar die Mehrheit der Prostituierten sexuelle Dienstleistungen in einem erdrückenden oder sogar unterdrückenden Abhängigkeitsverhältnis anbieten. Ich meine jedoch, dies ist eine überwindbare „Altlast“ aus Zeiten, in denen das horizontale Gewerbe noch illegal und damit auf die kriminellen Strukturen, die sich in diesem „Milieu“ und darum herum entwickelten, angewiesen war. Ich glaube nicht, dass Prostitution (Sex gegen Geld) und Kriminalität (Zuhälterei, Zwangsprostitution, Gewalt, Drogensucht, Menschenhandel, etc.) aus sich selbst heraus einen kausalen Zusammenhang haben. Ich glaube das, weil ich selbst ein Beispiel dafür bin, dass beides getrennt voneinander existieren kann.

Ich arbeite seit zwei Jahren unabhängig als Prostituierte. Ich bin neben dem Studium als „Independent Escort“ tätig. Ich habe mir das ausgesucht, weil es nach einer reiflichen Betrachtung der sich mir in meiner derzeitigen Lebenssituation bietenden Möglichkeiten des Geldverdienens, die angenehmste, unkomplizierteste und passendste war. Ich komme aus gutem Hause, ich bin gebildet und körperlich topfit; es war also keine Entscheidung aus genereller Perspektivenlosigkeit heraus. Mich zu prostituieren und damit mein eigenes Geld zu verdienen, war ein Schritt in die Unabhängigkeit – sowohl in die finanzielle, als auch in die sexuelle. Wie kann das sein?

Alice Schwarzer spricht sich noch heute gegen den Minirock aus. Sie ist der Meinung, dass die Unabhängigkeit der Frau nur durch ihre sexuelle Enthaltsamkeit erreicht werden kann, nämlich indem sie sich ihrer Rolle als gefügiges, vom Manne dominiertes „Lustobjekt“ rigoros entzieht. Frau Schwarzer unterliegt einem, wenn auch aus ihrer gesellschaftlichen Perspektive nachvollziehbaren und für die feministische Bewegung wohl bahnbrechenden Fehlschluß. Dem Recht der Frau auf eine selbstbestimmte Sexualität ist mit der feministischen Forderung nach ihrer Enthaltsamkeit vor dem Manne keinesfalls Genüge geleistet. Schlimmer noch, durch die Enthaltsamkeit der Frau, bekommt der sexuelle Erfolg des Mannes den Status einer Belohnung, einer Trophäe, einer Prämie, vor der jedes Ausleben weiblicher Sexualität automatisch zu einem „Wertverlust“ der sich dem Manne hingebenden Frau führt. (Mit je mehr Menschen ich einen Preis teilen muß, desto kleiner wird der Anteil des Preises für jeden Einzelnen, woraus sich dessen Entwertung ableitet.)

Ohne den Einfluß von Geld oder irgendwelcher Dienstverhältnisse bewirkt allein dies eine sexuelle Zwanghaftigkeit im Umgang von Mann und Frau. Ähnlich wie es das poetische Minne-Konzept im Hohen Mittelalter vorsah, wirbt der Ritter in einer Art Liebesdienst um die Gunst der ewig unerreichbaren Dame. Diese muß schon allein deshalb unerreichbar bleiben, damit sie den Grund für ihre Anbetung (nämlich ihre Reinheit, die hohe Wertigkeit ihres Preises) nicht ad absurdum führt. Im Sinne einer feministischen Ermächtigung, mag die Enthaltsamkeit der Frau eine opportunistische Entscheidung sein. Im Sinne einer sexuellen Befreiung und einer Gleichberechtigung der Geschlechter ist sie es nicht. Die sexuelle Enthaltsamkeit der Frau, bzw. ihr zugunsten ihrer gesellschaftlichen Reputation erforderliches, peinliches Abwägen, wem sie ihre Gunst gewährt und wem nicht, führt nicht in die sexuelle Freiheit, sondern in den Geschlechterkampf – den Kampf des Mannes um die Gunst der Frau und den Kampf der Frau, auf der Suche nach einem geeigneten Günstling, der ihre Entwertung auch wert ist. Die Ansprüche an einen potentiellen Partner werden so künstlich aufgebauscht, die Schwierigkeit, einen passenden Partner zu finden, wächst und ebenso wächst die Angst vor einer falschen Entscheidung.

Diese selbstauferlegte Unterdrückung der weiblichen Sexualität und die Zwanghaftigkeit im Umgang damit ist auf lange Sicht eine Sackgasse. Wo der Geschlechterkampf bestimmend ist, kann es keine Befried(ig)ung der Geschlechter geben. Bücher wie Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ oder die Entstehung einer feministischen Porno-Bewegung („PorYES“ im Ggs. zu Schwarzers „PorNO“) lassen ein zunehmendes Bewußtsein für diese Problematik unter jungen, emanzipierten Frauen erkennen. Doch wie dieser Sackgasse entfliehen? In einer Gesellschaft, in der Frauen, die sich ungewöhnlich freizügig geben, von ihren Geschlehtsgenossinnen noch immer gerne als „billige Schlampen“ betrachtet werden und in der Männer sich mit ihren sexuellen Erfolgen vor ihren Geschlechtsgenossen brüsten (könn[t]en), wird es keiner emanzipierten Frau leicht gemacht, sich FÜR das Niederlegen der „weiblichen Waffen“ zu entscheiden. Dass damit ein Machtverlust einher ginge, lernt Frau meist schon während der Pubertät. Wenn die Brüste zu wachsen beginnen und die junge Dame merkt, wie leicht sie in einer von Männern dominierten Welt allein mit einem gewagten Ausschnitt ihre wie auch immer gearteten Ziele erreichen kann, dann ist das ein, in der Figur der Wildeschen „Salomé“ gekonnt symbolisiertes, absolut prägendes Erweckungserlebnis für die Frau.

Ich selbst hatte lange Zeit weder sexuelle Kontakte, noch Liebesbeziehungen zu Männern, weil es mir zu einfach war, sie zu beeindrucken, und ich mir in dieser Rolle zu austauschbar vorkam. Ich verliebte mich, ohne sexuellen Kontakt, eher in Freundinnen und hegte deshalb sogar den Verdacht, ich sei lesbisch. Doch meine Ausflüge in diese Szene waren allesamt enttäuschend. Nicht dass es mir nicht von Zeit zu Zeit gefallen hätte, meine weiblichen Waffen gegenüber männlichen Mitmenschen in vollem Maße auszunutzen, aber geliebt werden, wollte ich dennoch um meiner Selbst Willen und nicht weil ich zwei Titten und eine Muschi habe. Erst als ich jemanden fand, der mir das Gefühl gab, mich meiner individuellen Qualitäten als Mensch wegen zu begehren, unabhängig von geschlechtlichen Konventionen, konnte ich mich überhaupt meiner sexuellen Emanzipation widmen. Denn ich war auf einmal unabhängig von dem Anspruch geworden, einen geeigneten Lebenspartner zu finden und konnte mich auf einmal mit der Suche nach geeigneten Sexualpartnern befassen.

Zu dieser Emanzipation gehörte in erster Linie, eine Attitüde PRO Sexualität zu entwickeln – und zwar ein PRO, das unabhängig von romantischen Forderungen nach (wahrer) Liebe oder sonstiger emotionaler Bindung für sich Bestand hat. Es war mir wichtig, meine Lust als Lust zu akzeptieren, in all ihrer animalischen Bedeutung und ohne ihre züchtigende, zivilisierende, ja, grenzenlos überhöhte Einbindung in fragliche Liebes- und Beziehungskonzepte. Ich wollte mich meiner Lust nicht nur in Form von freiwilliger Enthaltsamkeit, sondern auch in Form freiwilligen Auslebens bemächtigen. Die Erkenntnis, mich nicht nur selbstbestimmt gegen meine Sexualität entscheiden zu können, sondern zu akzeptieren, dass ich mich auch jederzeit selbstbestimmt, unverschämt und unabhängig von meinen Ansprüchen an eine Lebenspartnerschaft FÜR meine Sexualität entscheiden könnte, das war ein emanzipatorischer Befreiungsschlag.

Vor diesem Hintergrund, erscheint es nicht mehr verwunderlich, dass Sex mit einem fremden Menschen das Potential hat, ebenso gut oder schlecht zu sein, wie Sex mit einem geliebten Menschen. Und es erscheint nicht mehr verwunderlich, dass die Entscheidung für Sex unabhängig von der Frage getroffen werden kann, ob man den Geschlechtspartner liebt oder nicht liebt. Die Möglichkeiten der selbstbestimmten Ausgestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen gewinnen durch eine solche Erkenntnis für die Frau theoretisch an Facettenreichtum. In der Praxis, ist dies aber vor allem deshalb schwierig umzusetzen, weil zu einer gelungenen zwischenmenschlichen Beziehung jedweden Charakters immer mindestens zwei Menschen gehören. Wo ich mit meiner freien Entscheidung gegen die Konvention (Sex aus Liebe/heterosexuelle Monogamie) leben möchte, kann ich nicht davon ausgehen, dass mein Wahlpartner dieselben Überlegungen, dieselben Bedürfnisse, dieselben Erwartungen und dieselben Ansprüche an unsere Beziehung hat, wie ich. Ich muß das individuell mit jedem einzelnen Partner (und ggf. Partner-Partner) verhandeln und das ist anstrengend und zeitaufwendig und führt u.U. zu unvorhergesehenen, emotionalen Belastungen.

Für einen geliebten Menschen (oder einen, den man gerne lieben oder freundschaftlich an sich binden möchte), geht man dieses Risiko sicherlich eher ein und bringt dieses Aufwandsopfer vorbehaltlos. Wo ich als Frau jedoch einfach Sex mit einem für meine sexuelle Befriedigung (und nichts weiter) geeigneten Partner haben möchte, überwiegen, ganz ökonomisch gesprochen, die Kosten für ein solches Arrangement oftmals den Nutzen. Ich kann auch nicht wortlos umhergehen, allen Männern, die mir als Bettfreunde halbwegs gefallen, haltlos den Kopf verdrehen und sie dann fallen lassen, sobald meine sexuellen Bedürfnisse an ihnen befriedigt sind. Dies ist ein Verhalten, das die Frau lange dem Mann zum Vorwurf gemacht hat und das ich aus moralischen Gründen nicht wiederholen möchte. Es wäre rücksichtslos, ignorant und unfair meinen Mitmenschen gegenüber.

Deshalb muß ich, wenn es außerhalb meiner Liebes- und Freundschaftsbeziehungen um meine sexuelle Befriedigung geht, bzw. ich den Aufwand, individuell zu verhandeln, nicht leisten möchte, weil ich unverbindlichen Sex suche, einen Kompromiß finden. Das Angebot einer sexuellen Dienstleistung kann (muß aber nicht) ein solcher Kompromiß sein. Ich sage, wenn du grundlegend gebildet und sympathisch bist, mich mit Respekt und nicht wie Dreck behandelst, dann können wir gerne, zu unser beider sexueller Befriedigung miteinander schlafen. Damit du hinterher, wenn wir miteinander geschlafen haben, nicht das Gefühl bekommst, dass dir aus unserer Bettfreundschaft irgendein weitergehender Anspruch auf mich oder eine Forderung von mir, d.h. eine emotionale Bindung, erwächst, lasse ich mich für die Zeit, die ich mit dir verbringe, bezahlen. Wenn dies ohne Vorspielung falscher Tatsachen zustande kommt, dann ist es ein fairer Deal zwischen zwei gleichberechtigten Menschen. Diese können sich frei für oder gegen das Angebot entscheiden. Es gibt weder Kampf, noch Zwang, denn der Sex in einem Dienstleistungsverhältnis ist keine Trophäe.

Der Sex in einem Dienstleistungsverhältnis kann (muß aber nicht) eine Möglichkeit sein, sich frei von Geschlechter- und Beziehungs-Konventionen der sexuellen Exploration zu widmen. Er kann helfen, die eigene Lust auch als solche frei auszuleben, ohne dabei größere (emotionale) Risiken einzugehen. Sex mit einem unbekannten Menschen kann schon allein aufgrund der Fremdheit des Gegenübers aufregend und prickelnd sein und solange die Prostituierte keinem Zuhälter oder sonstig Zwang ausübenden Arbeitgeber, sondern allein sich selbst verpflichtet ist, kann sie frei entscheiden, auf welchen Kunden sie sich einlassen möchte und auf welchen nicht. Je weniger ein Mensch aus existentieller Not oder aber aus Gier von dem Geld abhängig ist, das er mit seiner Arbeit verdient, je mehr er sich aus Spaß an der Sache in seinem Job profiliert, desto freier ist er – auch dann, wenn er mit der Sache, die ihm Freude bereitet, seinen Lebensunterhalt (oder sein Zubrot) verdient. Das entwertet seine Freude nicht und es bedeutet auch nicht, dass er alles tun müßte, wofür ihm jemand Geld anbietet, auch dann, wenn er sich unwohl fühlt. Wer frei un unabhängig ist, kann „nein“ und „ja“ sagen. Das gilt für die Prostitution ebenso wie für alle anderen Erwerbstätigkeiten auch. Deshalb sind Forderungen nach einem Mindestlohn oder einem Grundeinkommen unterstützenswert, weil sie den Bürger vom Zwang, Geld verdienen zu müssen, befreien.

Es ist in Anbetracht der Genderdebatte schade, dass im Bereich der Prostitution nach wie vor überwiegend Frauen die Anbieterinnen und Männer die Kunden sind. Ich könnte es mir andersherum durchaus vorstellen, aber das funktioniert derzeit leider noch nicht. Es ist auch schade, dass es nach wie vor solcher Hilfskonstruktionen bedarf, um Sexualität von überhöhten Beziehungsmythen zu befreien, bzw. dass sie nach wie vor opportun oder ökonomisch erscheinen. Aber die Zeit, in der alle Frauen und Männer auch privat zwangloser miteinander umgehen können, kommt vielleicht noch. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Kriminalität, die im Rahmen von Prostitution stattfindet, zurückgedrängt wird, wenn wir an der Legalisierung der Prostitution festhalten. Wenn wir uns darüber hinaus auch für deren Übergang in eine gesellschaftliche Legitimation (Legitimität?) einsetzen, könnte dies auch helfen, den Prozess einer geschlechter-unabhängigen sexuellen Befreiung voranzutreiben. In jedem Falle plädiere ich für einen sachlichen, fairen und vorurteilsfreien Umgang mit Prostitution, ohne eine Abwertung der Anbieterinnen, der Kunden oder des Angebots als solchem. Befreit man sie von ihrer generellen gesellschaftlichen Ächtung, kann Prostitution auch als Entscheidung FÜR eine freie und selbstbestimmte weibliche Sexualität betrachtet und entsprechend respektiert werden.

Der uneingeschränkte und undifferenzierte Mythos von der Hure als Opfer (unfrei, zwanghaft, fremdbestimmt) hat keinen Bestand mehr, wo wir der Frau nicht nur das Recht, sondern auch ihre Fähigkeit auf eine selbstbestimmte Sexualität zugestehen. Der Mythos von der Hure als Opfer ist überwindbar, denn die Entscheidung FÜR die Prostitution kann durchaus auch Ausdruck der sexuellen Emanzipation der Frau sein. Dies gebe ich zu bedenken.

Carmen Amicitiae
Berlin, 15.02.2010


 
 
 

11 Kommentare zu “Prostitution = Emanzipation”

  1. TheK
    6. März 2010 um 21:36

    Wunderbar, selbst als Mann kann ich da nur nicken. Für Männer gelten die „Eroberungen“ als „Trophäen“, wogegen die meisten Frauen schon auf die Frage, wie viele feste (!) Beziehungen sie schon hatten, verschämt und ausweichend antworten. Ein Mann, der regelmäßig eine andere hat, gilt als „toller Hecht“; eine Frau gilt eigentlich schon nach dem ersten One-Night-Stand auf Lebenszeit als „Schlampe“ (bezeichnend, dass es zu diesem Wort nicht einmal ein männliches Pendant gibt). Da sich viele Frauen dann auch bei der Anbahnung von Flirts entsprechend (passiv) verhalten, wird das Vorurteil vom „Frauenverschleißenden Macho“ dann auch zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Ein schüchterner Mann, der sich selbst nicht traut, offensiv zu werden, hat gar keine Chance.

  2. carmen
    7. März 2010 um 14:57

    Ja, es ist schade, dass die schüchternen Männer so schlechte Chancen haben. Dabei sind sie oftmals gerade deshalb so schüchtern, weil sie eben nicht dieses Machoklischee erfüllen wollen. Meines Erachtens können wir diesen Teufelkreis „Macho – Schlampe“ nur durch Emanzipation auf beiden Seiten durchbrechen, also auf männlicher wie weiblicher. Die Frauen müßten sich in ihrer eigenverantwortlichen Sexualität emanzipieren und die Männer in alternativen Modellen von Männlichkeit, die sie nicht als „feminisiert“ empfinden. Männliche Emanzipation scheint ja auch gerade ein Topthema zu werden: Männer emanzipiert euch!

  3. J.M.S. (Lehrerin)
    17. April 2010 um 14:34

    Liebe Carmen,
    ich habe Ausschnitte aus Ihrem Blogbeitrag mit Schüler_innen meiner 11. Klasse im Unterricht gelesen. In einem Schulbuch gibt es einen konträren Text, der die Schattenseiten der Zwangsprostitution darstellt, diesem wollte ich etwas entgegenhalten.

    Die anschließende Diskussion unter den Schüler_innen war sehr fruchtbar, insgesamt wurde Ihr Text relativ positiv aufgenommen. Die Wortführer der Jungen kamen sogar zu dem Urteil, dass sie nur eine Prostituierte aufsuchen würden, die dies freiwillig tue. Die Mädchen waren etwas skeptischer gegenüber dieser selbstbewussten Form der Prostitution, vor allem mit der Begründung, dass man so – trotz Gegenbeispiel im Text – keine „richtige“ Liebesbeziehung führen könne. Heterosexuelle Monogamie gilt eben auch unter Jugendlichen als die einzig vorstellbare Beziehungsform.
    Auch die gesellschaftliche Ächtung von Prostituierten wurde thematisiert. Ein Schüler wies darauf hin, dass Sie nach oder während Ihrer Tätigkeit als Prostituierte wohl kaum öffentliche Ämter wahrnehmen könnten, da diese Lebensform keineswegs in unserer „ach so toleranten“ Gesellschaft akzeptiert sei. – Genau diese Denkprozesse wollte ich in Gang bringen. Mit Ihrem Text ist es ein Stück weit gelungen.

    Natürlich blieb der obligatorische Anruf eines besorgten Vaters nicht aus, der sich darüber beschwerte, dass in meinem Unterricht die Verherrlichung von Prostitution betrieben würde.
    Ich erklärte ihm also, dass es mir vor allem um die Thematisierung von fremd- und selbstbestimmter Sexualität gegangen sei. Im Laufe des Telefonats stellte sich heraus, dass der Familienvater nichts gegen Prostitution an sich habe, das sei schließlich das älteste Gewerbe und so weiter…, vielmehr fürchte er, dass seiner Tochter dieser libertinäre Umgang mit Sexualität als Ideal dargestellt werde, und vor dieser „Sittenlosigkeit“ wolle er sie doch bewahren etc. –
    Über die bigotte Doppelmoral der Gesellschaft haben Sie sich ja selbst schon treffend geäußert. Es bleibt mir nur, Ihnen herzlich für Ihren Mut, Ihre Offenheit und auch für diesen Text zu danken.

    Ich wünsche Ihnen alles Gute!

  4. carmen
    18. April 2010 um 13:20

    Hallo J.M.S.,

    es freut mich, dass dieser Text die Diskussion unter ihren Schülern in Gang bringen konnte. Natürlich geht es nicht darum, Prostitution blind zu verherrlichen. Aber blind das Gegenteil zu tun, wie es aktuell leider noch weitgehend der Fall ist, ist eben auch der falsche Weg. Natürlich ist Zwangsprostitution unschön, wie überhaupt alles, was unter Zwang passiert unschön ist. Ein anderer Umgang mit Prostitution und als Form von selbstbestimmter Sexualität ist aber möglich und m.E auch nötig, um die Schattenseiten des Gewerbes bekämpfen zu können. Dafür braucht es in erster Linie Selbstbewußtsein und ein Selbstwertgefühl unter den AnbieterInnen, was durch die gesellschaftliche Ächtung unseres Berufsstandes ja nicht unbedingt befördert wird.

    Ihren Schülerinnen können sie übrigens versichern, dass im privaten Bereich auch einer Prostituierten eine „echte“ Liebesbeziehung möglich ist. Aber das Verhältnis zu den Kunden ist nicht von diesem Interesse geprägt. ;)

    Liebe Grüsse, Carmen.

  5. Robert
    18. Oktober 2010 um 01:43

    Hmmm. Ich stimme allem zu. Aber ich sehe es irgendwie trotzdem wie der Familienvater der Carmen anrief.

    Ich würde auch nicht wollen das meine Tochter (wenn ich sie denn hätte) diesem Beruf nachgeht.

    Anderseits: Bin ich gegen Ächtung von Berufen, Personengruppen jeder Form, wüsste auch nicht wie ich diesem gedanklichen Teufelskreis entwinden soll. Denn irgendwas in mir sagt weiterhin, es ist falsch sich zu prostituieren.

  6. carmen
    18. Oktober 2010 um 11:12

    Der Familienvater rief nicht mich an. Und ja, die Doppelmoral ist ein Problem. Viele meinen, Prostitution sei schon irgendwie in Ordnung, aber hilfe, wenn meine Frau/Tochter/Mutter das tut, dann geht das ja mal gar nicht! Warum nicht? Was genau ist denn „falsch“ daran, sich freiwillig zu prostituieren?

  7. Eric Manneschmidt
    24. August 2012 um 14:39

    Ich halte im Zusammenhang mit selbstbestimmter Sexualität, wie auch mit selbstbestimmten Beziehungen, Liebe, Freundschaft, Familie die finanzielle Unabhängigkeit des Individuums für den entscheidenden Aspekt.

    Daher propagiere ich ein bedingungsloses Grundeinkommen, ganz ausdrücklich keine Mindestlöhne, die ja den Bürger gerade nicht vom Zwang befreien, Geld verdienen zu müssen (ganz im Gegenteil beziehen sie sich ja nur auf Arbeitslohn, im Grunde sogar nur auf abhängige Beschäftigungsverhältnisse).

    Ich gehe im Übrigen davon aus, dass sich durch die Abschaffung des Arbeitszwangs (aus wirtschaftlicher Not), das Problem der „Zwangsprostitution“ wirklich lösen liesse, wohingegen alle anderen Maßnahmen letztlich immer fehlgehen, da sie die Zwangssituation der Betroffenen nicht zu lösen vermögen. Dafür darf ein bedingungsloses Grundeinkommen natürlich letztlich nicht auf Deutschland oder Europa beschränkt bleiben.

  8. Eric Manneschmidt
    24. August 2012 um 15:15

    Nachtrag:
    Interessant finde ich auch die konservative Kritik von „Sex gegen Geld“ angesichts der Tatsache, dass richtig konservative Rollenmodelle ja genau darauf beruhen, dass es Sex nur in einer Ehe gibt, welche wiederum traditionell auf der absoluten finanziellen Abhängigkeit der Frau beruht.
    (Von links wird dem bisher als Alternative die Abhängigkeit der Frau von ihrem Arbeitgeber entgegengesetzt, was wirklich zu wenig ist…)

  9. carmen
    24. August 2012 um 15:51

    Auf jeden Fall, ein Grundeinkommen wäre eine sinnvolle Maßnahmen gegen jede Form von Arbeitszwang aus Gründen der existentiellen Not. Es ist ja nicht so, dass Leute, die im Fleischer an der Kasse stehen, unbedingt alle in ihrem Job aufgehen oder Studenten, die im Call-Center sitzen, unbedingt alle gut bezahlt und nicht ausgebeutet werden. Aber bei denen fragt halt niemand danach, wie ausgebeutet sie sich vorkommen.

    Ich meine auch, dass viele Konservative, die mit dem Argument „Zwangsprostitution“ nach Prostitutionsverboten schreien, Prostitution eigentlich aus moralischen Gründen generell ablehnen und nur vorgeschobene Gründe suchen. Natürlich entspricht eine Frau, die Sex mit mehreren Menschen außerhalb der Ehe hat und auch noch Geld damit verdient nicht dem traditionellen Rollenbild. Ich habe sogar neulich gehört, dass einige konservative Männer Prostitution ablehnen, weil die Frauen ihren „natürlichen Sexualtrieb“ für ihren finanziellen Vorteil ausnutzen. So als hätte Mann seine Triebe nicht unter Kontrolle und als wäre es nicht seine freie Entscheidung gegen Geld mit ihr zu schlafen oder es zu lassen.

  10. Hauke Laging
    15. November 2012 um 17:02

    Moin,

    ich habe größte Bedenken, dass es den selbsternannten Frauenförderern um die Lebensverhältnisse und -qualität der Dienstleisterinnen geht. Einerseits wird (aus „strategischen“ Gründen?) den Männern der leicht verfügbare Sex nicht gegönnt, andererseits überhöht man sich selbst ja moralisch gern (möchte aber beim Date trotzdem nicht selber zahlen; sonst gibt es keinen Sex, nur Empörung). Die Scheinheiligkeit (gut vergleichbar der Debatte um Sterbehilfe) ist hervorragend daran zu erkennen, dass den denkoptionalen Moralisten außer dem Verbot nichts einfällt. Wie es den Frauen in schwierigeren Verhältnissen dann (finanziell) geht, juckt keinen. Man fühlt sich für das Leben der anderen verantwortlich (und verbotsberechtigt), aber eben nur da, wo es sich gut anfühlt, nicht anstrengend ist und nichts kostet. Die wenigsten Dienstleisterinnen stehen unter Zwang. Alle anderen könnte man politisch erreichen, indem man ihnen Alternativen bietet. Hätten die Moralisten recht, gäbe es irgendwann nur noch ein verschwindend geringes Angebot. Wäre an ihrer These irgendwas dran, sie könnten es so leicht belegen. Aber wir wissen ja, warum nichts passiert.

    «Sicherlich ist es, trotz Legalisierung der Prostitution, nach wie vor so, dass viele, wenn nicht sogar die Mehrheit der Prostituierten sexuelle Dienstleistungen in einem erdrückenden oder sogar unterdrückenden Abhängigkeitsverhältnis anbieten.»

    Dazu möchte ich einen Vorschlag äußern. Ich glaube, dass man die unschönen Aspekte des Milleus drastisch reduzieren könnte, indem man man für „normale“ Angebote eine Kostenuntergrenze einführt. Sagen wir mal 60, 80 EUR. Was man dafür bekommt (im Zweifelsfall: wie viel Zeit) wäre offen. Angebote für weniger Geld wären zwar noch zulässig, aber nur in einem rigide regulierten Umfeld, das Zwangsprostitution u.Ä. wirksam ausschlösse. Das hätte meines Erachtens einerseits eine erhebliche Verschiebung zu gehobenen Angeboten zur Folge, andererseits sicherlich auch eine qualitative Verbesserung für die Frauen (am unteren Ende der Skala). Paysex muss nicht würdelos sein; sich an der Straße fünfzehn Minuten einen blasen zu lassen ist zumindest schon dicht an würdelos. Das braucht niemand, weder die Männer noch die Frauen. Wenn die Sitzung eine dreiviertel Stunde bis Stunde dauert, hat der Vorgang sehr viel mehr mit Sex zu tun als das ansonsten praktizierte Stillhalten. Zwangsprostitution würde mit marktwirtschaftlichen Mitteln unterlaufen – dagegen ist auch die Mafia machtlos. Ein illegales Unterlaufen der Kostenuntergrenze wäre für die Polizei viel leichter zu erkennen als Zwang. Weniger Umsatz, mehr Risiko für die Kriminellen.

    «Dem Recht der Frau auf eine selbstbestimmte Sexualität ist mit der feministischen Forderung nach ihrer Enthaltsamkeit vor dem Manne keinesfalls Genüge geleistet.»

    Haha, in der Tat. Dafür muss man ja nur einen verächtlichen Blick auf das Mutterland des kulturellen Zurückgebliebenseins werfen: freiwillige Enthaltsamkeit, erwartete, erzwungene Enthaltsamkeit, Kopftuch, Ganzkörpersack, Mord und Totschlag für Blicke(!). Nein, Enthaltsamkeit ist ganz sicher nicht der Weg zur feministischen Erleuchtung. Deutlicher als die Korrelation von Enthaltsamkeit und Freiheit der Frau geht es im Länder- und Kulturvergleich wohl nicht mehr.

    Und zu den «Schlampen»: Dass diese soziale Maßregelung in erster Linie von Frauen ausgeht, ist nun wahrlich keine neue Erkenntnis. Vielleicht brauchen wir als Ergänzung zu all dem, was gegen (manche?) Männer gerichtet ist, mal eine «Schlampen»-Kampagne, die sich (primär) an Frauen (Mädchen) richtet? So in der Art von „Meine beste Freundin fickt rum, wenn sie Single ist. Das macht sie zu einer entspannt-glücklichen Frau, nicht zu einer Schlampe. Ich misgönne ihr den besseren Sex nicht, sondern freue mich für sie.“.

    Noch ein Punkt: Ich glaube, dass die Ablehnung von Prostitution viel mit dem Geschiss zu tun hat, das um Treue gemacht wird. In beiden Fällen ist die Sachlage erdrückend, aber in beiden Fällen geht es um Sex, und dadurch kommt Ideologie ins Spiel. Gedankenexperiment: Treue als Forderung ist in Zukunft verpönt, Freiheit und sexuelle Erfüllung sind die maßgeblichen Werte (die Beziehungen sind als Nebeneffekt ehrlicher und stabiler). Ist in so einer Gesellschaft die Verteufelung von Prostitution überhaupt noch denkbar? Ich glaube nicht.

    Ob ich nun das Längenmaximum gesprengt habe? ;-)

  11. carmen
    15. November 2012 um 19:39

    Sicherlich ist es, trotz Legalisierung der Prostitution, nach wie vor so, dass viele, wenn nicht sogar die Mehrheit der Prostituierten sexuelle Dienstleistungen in einem erdrückenden oder sogar unterdrückenden Abhängigkeitsverhältnis anbieten.

    Oh mann, habe ich das geschrieben? Ja, hab ich. Ich revidiere das. Ich glaube inzwischen nicht mehr, dass das der Fall ist. Von allen Prostituierten, die ich bisher kennengelernt habe, arbeitet keine in einem unterdrückenden oder erdrückenden Arbeitsverhältnis. Das was uns aber alle irgendwie drückt, sind die Vorurteile Außenstehender, mit denen wir immer wieder konfrontiert sind. Die sind wirklich das Erdrückenste an dem Job.

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