Ein Interview, das Missy nicht wollte

Letztes Jahr im Herbst führte eine junge Dame*, die gerade ein Praktikum beim Missy Magazin machte, ein Interview mit mir durch. Eigentlich sollte es, so erzählte sie mir, im Druck erscheinen. Aber dann war sie krank und dann war die Deadline vorbei und dann war das Praktikum vorbei und irgendwie verlief sich alles im Sande. Auf mehrmaliges Nachfragen beim Missy Magazin, ob sie das denn jetzt noch irgendwie verwenden wollten, erhielt ich keine Antwort. Daher, weil ich es zu schade für die Schublade finde und auch in Vorbereitung auf meinen Vortrag „Prostitution als Weg der sexuellen Emanzipation“, veröffentliche ich es jetzt in meinem Blog. Es geht um Emanzipation und Feminismus und wie das alles mit Prostitution vereinbar wäre.

Das Interview

» Auf deiner Seite steht, du bietest einen Escort Service an. Trotzdem sprichst du auch immer wieder von dir als Prostituierten und Sex als deiner Dienstleistung. Warum legst du auf die Unterscheidung von Escort und Prostitution, die ja durchaus per definitionem vorhanden ist, gerade nicht so großen Wert, wie das andere Frauen in der Escort Branche tun? «

Ich sehe keinen definitorischen Unterschied zwischen Prostitution und Escort, sondern betrachte Escort als eine von vielen verschiedenen Ausprägungen der Prostitution. Ich biete Sex gegen Geld an, das tut die Hure im Bordell auch. Dass mein Angebot weiter gefaßt ist, als ihres, heißt für mich nicht, dass wir nicht beide Sexarbeiter wären. Viele KollegInnen distanzieren sich von dem Begriff, weil sie sich mit dessen negativen Konnotationen nicht identifizieren wollen. Ich verstehe und respektiere das, bin aber im Gegensatz zu ihnen nicht bereit, die negativen Konnotationen zu akzeptieren. Daher möchte ich den Begriff positiv umbesetzen; ich verwende ihn mit Stolz, auch um anderen Mut zu machen und mich zu solidarisieren. Prostitution ist nichts, wofür man sich schämen müßte.

» Du sprichst dich für einen lustvollen Feminismus aus, in dem du argumentierst, Prostitution, also Sex gegen finanzielle Gegenleistung sei eine Geste der Selbstermächtigung und Emanzipation für Frauen. Erkläre mir bitte etwas genauer, worin du das emanzipatorische Potential in der Sexarbeit siehst. «

Frauen haben nicht nur das Recht, sondern auch die Fähigkeit, über sich und ihren Körper selbst zu entscheiden; das gilt auch für ihre sexuelle Selbstbestimmung. Meine eigene Sexualität entspricht nicht dem weiblichen Rollenbild einer passiven, duldenden und trieblosen Sexualität. Ich bestimme, mit welchen und wievielen Partnern ich in welcher Form sexuell aktiv werde. Ich warte nicht darauf, wie es von Frauen noch immer vielfach erwartet und gelebt wird, dass mir Sex passiert. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen ist für mich der Wunsch nach sexueller Betätigung aber nicht unweigerlich auch an den Wunsch nach emotionaler Bindung und sozialer Verpflichtung gekoppelt. Auch das entspricht nicht dem Normativ – dadurch kann es in privaten Beziehungen leicht zu Mißverständnissen kommen. In gewerblichen Beziehungen sind solche Mißverständnisse von vorn herein ausgeschlossen; es ist klar, worum es geht und wielange es dauert. Meine Kunden erwarten nicht von mir, dass ich mich verliebe, dass ich am nächsten Tag zurückrufe oder sie meinen Eltern vorstelle. Und sie erzählen auch nicht in meinem Freundeskreis herum, was für eine Schlampe ich wäre, dass ich wechselnde Partner hätte, ohne mich ihnen gegenüber zu verpflichten. Die Escortdates ermöglichen mir und meinen Partnern echte Unverbindlichkeit, die weder niveaulos noch plump daherkommt. Das empfinde ich als sehr befreiend: Die Prostitution bietet mir einen Schutzraum, in dem ich mich jenseits der Norm ungehemmt sexuell ausleben kann.

» Wie sehr hat dir der Feminismus oder besser, haben dir die vielfältigen Feminismen dabei geholfen, eine emanzipierte Frau zu werden? Wie sehr hat dein Berufen auf den Feminismus deine Arbeit als Prostituierte/Escort-Lady beeinflusst? «

Ich bin nicht über den Feminismus zur Emanzipation gekommen, sondern andersherum über die Emanzipation zum Feminismus. Ich habe schon als Kind festgestellt, dass ich in vielerlei Hinsicht nicht in die vorgegebenen Rollenbilder passe. Weil ich fantastischen Rückhalt in meiner Familie hatte, mußte ich an meiner Andersartigkeit nicht verzweifeln, sondern konnte die nötige Kraft schöpfen, mich von den Zwängen des Normativs zu befreien. Das war meine Emanzipation, mein Anderssein und das Anderssein im Allgemeinen schätzen zu lernen. Ich empfinde die Diversität der Menschen und der Welt insgesamt als Bereicherung meines Lebens und nicht als Überforderung. Geschlecht, Hautfarbe, Abstammung, Alter oder Aussehen sollen keine Rolle spielen. Deswegen bin ich auch Feministin; der Feminismus ist Teil meiner allgemeinen Emanzipation. Diese Einstellung hatte natürlich Einfluß darauf, dass ich mich für die Prostitution und nicht für irgendeinen anderen Job entschieden habe. Ich lebe ja als Prostituierte eine für das weibliche Rollenbild untypische Sexualität aus (s.o.). Wäre ich weniger emanzipiert, wäre ich vermutlich nicht auf die Idee gekommen, das auszuprobieren. Außerdem wäre ich wohl weniger fit, den psychischen Druck andauernder Diskriminierung auszuhalten, dem man als „Abweichlerin“ ausgesetzt ist.

» Du sagst ja, sexuelle bzw. generelle Emanzipation der Frauen könne sich nur entwickeln, wenn sich Frauen von dem romantisch-bürgerlichen Konzept wahrer, einzigartiger Liebe verabschiedeten. Aber ist nicht eine Beziehung, welche auf Liebe, Anerkennung und gegenseitigem Respekt basiert, eine viel bessere Voraussetzung für ein erfülltes Sexleben, als die immer stärkere Trennung von Liebe und Sexualität? «

Sage ich das? :D Was ich meine ist, dass wir den Wert von Diversität erst erkennen, wenn wir sie zulassen. Wenn wir uns von den Zwängen vorgegebener Rollenbilder befreien, dann bieten sich uns plötzlich mehr Optionen, die Auswahl wird größer. Wir haben mehr Möglichkeiten, uns in der Welt zu entwerfen. So bekommen auch jene Menschen eine Chance, ihr individuelles Lebensglück zu finden, denen die hergebrachten Rollenbilder nicht passen. Denn die Welt ist ja nicht so beschränkt, wie unser Bild von ihr. Das Ideal der „romantischen Liebe“ ist eines dieser hergebrachten Rollenbilder: Es sagt uns, wen wir lieben, mit wem wir schlafen dürfen und wie wir unsere Beziehung zu gestalten haben. Für viele Menschen funktioniert es so nicht. Sie sind unglücklich in ihren Beziehungen, weil sie es nicht schaffen, die Vorgaben des Rollenbildes zu erfüllen. Aber sie kommen auch nicht auf die Idee, sich davon zu befreien und andere Möglichkeiten auszuprobieren, weil sie Angst vor dem Anderssein haben oder Defizite befürchten. Eine Beziehung jenseits der Norm zu führen, steht für mich aber nicht im Widerspruch zu einer Beziehung, die von Liebe, Respekt und Anerkennung geprägt ist. Meine Erfahrung zeigt mir, dass man auch jenseits der Norm lieben, respektieren und anerkennen kann.

» Die Entscheidung zum Ausleben deiner selbstbestimmten, entfesselten Lust ist ja aber immer an die Bedingung gebunden, dass du entweder keinen festen Partner/keine feste Partnerin hast oder, dass dein/e PartnerIn ebenfalls für eine Trennung von Liebe und Sexualität ist. Du sprichst dich also im Grunde dafür aus, dass wir immer noch an überhöhte Beziehungsmythen gekettet sind an die wir Dank unserer Sozialisierung glauben und die uns daran hindern, jene emanzipierten Frauen zu werden, die wir eigentlich werden wollen. «

Nein, die Entscheidung zum Ausleben meiner Lust ist keine Frage von entweder – oder. Unsere an heteronormativen, monogamen Beziehungsidealen orientierte Solzialisierung macht uns das glauben. Aber es stimmt nicht. Offenheit und Festigkeit sind kein Gegensatzpaar, sondern zwei eigenständige Parameter im Beziehungskontinuum. Ich bestimme, welchen Wert sie haben. Ich entscheide, ob und wie fest und/oder offen meine zwischenmenschlichen Beziehungen sein sollen. Wenn ich fair bin, bespreche ich mich darüber mit meinen Partnern, um eventuelle Interessenskonflikte zu vermeiden. Ähnlich verhält es sich mit Liebe und Sexualität. Wenn ich ihre Getrenntheit postuliere, dann meine ich damit nicht, dass sie einander unbedingt ausschließen sollen. Sondern ich meine, dass sie nicht unbedingt aneinander gekoppelt sein müssen, dass sie getrennt voneinander gedacht und ausgelebt werden können. Eine zwischenmenschliche Beziehung kann auch dann schön, wertvoll und erfüllt sein, wenn Liebe und Sexualität nicht im Doppelpack auftreten. Jenseits der Norm ist das möglich – auch weil mich dort niemand zwingt, meine Bedürfnisse nach Liebe und Sexualität an ein- und derselben Person zu stillen.

» Könnte man also sagen, du hast dich gegen das, was man in unserer Gesellschaft als Liebe summiert und FÜR Sex entschieden? Ist nicht dein Lebenskonzept eines, das gerade dafür steht, dass oftmals nicht beides zu haben ist, eine liebevolle Beziehung und ein wildes Sexleben mit wechselnden PartnerInnen? «

Nein, ich habe mich nicht gegen die Liebe entschieden; das ist Unsinn. Ich habe mich gegen die heterosexuelle, monogame, missionarische Norm entschieden. Ich habe mich dagegen entschieden, mir von anderen Leuten vorschreiben zu lassen, wen ich lieben und mit wem ich ins Bett gehen darf. Ich lebe seit vielen Jahren in einer festen Beziehung mit meinem Partner, den ich liebe und begehre. Wir beide haben weitere Partner außerhalb unserer Beziehung, auch (aber nicht nur) solche, die wir lieben. In meinem Falle übersteigt die Zahl rein sexueller Außenkontakte deutlich die Zahl emotional-erotischer. Ich könnte neben meinem Job viele Gründe dafür aufzählen, aber wer will das alles lesen? Es ist okay so, wie es ist. Ich habe ein erfülltes Beziehungsleben, weil ich für die Befriedigung aller meiner Bedürfnisse – seien sie nun emotionaler, sexueller oder auch intellektueller Natur – die passenden Partner habe oder finden kann. Ich leide keinen Mangel, und ich fühle mich nicht einsam oder ungeliebt. Meine Idee ist, dass man vollkommene Erfüllung finden kann, wenn man sich erst einmal von dem Gedanken verabschiedet, dass ein einzelner Mensch das alles allein leisten müßte. Ich muß nicht auf Mr. Right warten oder verzweifeln, weil ich Mr. Right nicht finde. Ich kann mir das Beste eines jeden einzelnen Menschen heraussuchen und ihn aufgrund dessen wertschätzen, selbst wenn er in anderen Bereichen Defizite hat.

» Du sagst auf deinem Blog, Sex als Dienstleistung sei eine Möglichkeit, deine Lust nach wechselnden PartnerInnen auszuleben. Außerdem begründest du das Bezahltwerden für den Sex als Schutzmaßnahme vor weiteren möglichen Verpflichtungsgefühlen für dich und deinen Partner. Erklärst du das bitte etwas genauer? «

Die meisten Menschen sind so sozialisiert, dass Liebe und Sex für sie zusammengehören. Sie wollen nur Sex mit Menschen haben, die sie auch lieben. Oder sie erwarten von einem Menschen, mit dem sie schlafen, mehr als nur Sex. Weil das der Norm entspricht, redet fast niemand darüber. Die meisten Menschen haben die Erfahrung, enttäuscht zu sein, weil ihre Hoffnungen nicht erfüllt wurden, bereits gemacht. Kaum jemand hinterfragt es, weil es selbstverständlich erscheint: Was halt nicht der/die Richtige. Mir geht es anders: Ich möchte nicht unbedingt eine Liebesbeziehung mit jedem Menschen eingehen, mit dem ich schlafe. Deshalb spreche ich mit meinen Partnern explizit über meine und ihre Bedürfnisse. Ich habe in privaten Beziehungen immer wieder festgestellt, dass Partner trotzdem nicht verstehen, was es bedeutet, wenn ich sage, dass meine Bedürfnisse rein sexueller Natur sind. Am Morgen nach einem ONS fragen sie, wann wir uns denn wiedersähen. Wenn ich sage, dass wir uns nicht wiedersehen, sind sie traurig und denken, es hätte mir nicht gefallen. Das bekümmert mich; ich möchte niemanden enttäuschen oder verletzen. Aber ich möchte auch nicht gezwungen sein, anderer Leute Bedürfnis nach Nähe und Zuneigung zu befriedigen, wenn mein eigenes Bedürfnis ein anderes ist. Wenn ich meine Dienste als Escortbegleiterin anbiete, dann kann ich sexuelle Befriedigung bekommen, ohne Interessenkonflikte heraufzubeschwören. Ein Escortdate hat einen definierten Anfang und ein definiertes Ende und darüber hinaus gibt es keine Verpflichtungen, keine Erwartungen und keine Schuld.

» Es gibt ein in Filmen und Romanen oft zitiertes Szenario, in der eine Frau eine Nacht mit einem Mann verbringt und sie am Morgen danach das Bett neben ihr leer vorfindet und auf dem Nachttisch ein Bündel Geldscheine liegt. Dieser Moment scheint für die Frau in Film oder Roman dann stets ein Moment der Entwürdigung zu sein. Mit dem Geldbündel auf dem Nachttisch bekommt die vergangene Nacht eine vollkommen andere Bedeutung, die nämlich einer Dienstleistung, statt einer sexuellen Begegnung zwischen zwei erwachsenen Menschen, die Lust aufeinander hatten. Warum glaubst du, dass dieses Moment so häufig zitiert wird und warum es entwürdigend für die Frau ist? «

Ich habe soetwas im realen Leben noch nie erlebt und kenne auch niemanden, der es erlebt hätte. Der Grund für die ständige Wiederholung dieses Motivs in Erzählungen, ist der, dass es sich dabei selbst um ein Klischee handelt. Die Figur steht pars-pro-toto für Ignoranz, Egoismus und Respektlosigkeit im zwischenmenschlichen Umgang. Wie gesagt, Menschen haben in einer Beziehung unterschiedliche Bedürfnisse. Meines Erachtens sollte man darüber explizit miteinander sprechen, um Mißverständnisse zu vermeiden. Das gilt natürlich insbesondere, wenn die eigenen Bedürfnisse von der Norm abweichen. Wenn ich mit einem Partner schlafe und am nächsten Morgen Geld auf dem Kissen finde, ohne dass das so abgesprochen oder wenigsten besprochen worden wäre, dann wäre ich auch schwer beleidigt. Denn das ist ein Zeichen von Ignoranz gegenüber meinen Interessen und Gefühlen. Sowas tut man nicht. Selbst wenn man mit einem Menschen nur schlafen und ihn nicht auch lieben möchte, kann man respekt- und rücksichtsvoll mit ihm umgehen. Man muß ihn nicht absichtlich verletzen. Darüber hinaus ist es auch fair, solche Aspekte im Vorfeld zu besprechen, nämlich um dem Partner die Wahl zu lassen: Möchte er unter diesen Umständen mit mir schlafen oder möchte er es nicht? Es ist seine Entscheidung, nicht meine. Und wenn er sich gegen mich entscheidet, dann habe ich das zu akzeptieren und nicht – womöglich unter Vorspielung falscher Tatsachen – die Befriedigung meiner Bedürfnisse von ihm zu erschleichen.

» Wie glaubst du, wird sich unser Sexualleben in der Zukunft verändern? «

Ich bin nicht gläubig, ich bin idealistisch: Ich hoffe, Menschen werden zunehmend erkennen, wieviele Möglichkeiten es jenseits der Norm gibt und diese Bereiche ganz selbstbewußt erobern und ausleben. Die Norm wird aufhören, selbstverständlich zu sein und Menschen werden anfangen, miteinander über ihre Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen. Sexuelle Bedürfnisse werden gleichberechtigt neben emotionalen und intellektuellen genannt und nicht mehr verschämt hintangestellt werden. Menschen werden aufhören Sexualität zu tabuisieren und lernen, entspannt mit ihrer eigenen und der anderer umzugehen. Sie werden erkennen, dass Liebe und Sex zwei eigenständige Parameter im Beziehungskontinuum sind und dass Rasse, Hautfarbe, Alter, Geschlecht und Aussehen gar keine so große Rolle spielen. Beziehungspartner werden gewählt und ausgesucht werden – und zwar aus Gründen und vom Menschen selbst und nicht mehr vom Schicksal. Menschen werden Beziehungen führen, weil sie bestimmte Eigenschaften des Partners zu schätzen wissen und nicht mehr aus Gewohnheit oder Angst, ansonsten allein sein zu müssen. Und je weiter sich die Gesellschaft in diese Richtung bewegt, desto kleiner wird der Markt der Prostitution werden – weil die Menschen der Zukunft sich ohne den Austausch von Geld über ihre Interessen und den Dienst, den sie aneinander leisten wollen, einig werden.

__________
(*Falls du als Urheberin der Fragen deinen Namen genannt haben möchtest, melde dich bitte bei mir! Ich verkneife mir das nicht, um dich zu übergehen, sondern aus Diskretionsgründen, weil du ja vielleicht nicht im Blog einer Sexarbeiterin mit bürgerlichem Namen genannt werden möchtest.)


 
 
 

6 Kommentare zu “Ein Interview, das Missy nicht wollte”

  1. Sina
    30. Juni 2013 um 17:06

    Hallo Carmen,

    ich finde mich in deinen Antworten zu diesem Interview absolut wieder- du hast es sehr schön und klar Formuliert. Die Fragen der Interviewerin zum Thema Trennung von Sex und Liebe hinterlassen bei mir den Eindruck, als hätte sie eine Wand im Kopf, die es einfach nicht zulässt sich auf deine Worte einzulassen. Stattdessen wird der gängige Gegensatz von bedeutungs- und respektlosem unverbindlichen Sex und vermeintlich vertrauensvoller, monogamen Beziehung übergestülpt. Dass freie Sexualität und Offenheit/echtes Vertrauen sich in vielen Fällen erst gegenseitig möglich werden lassen, ist für viele Menschen unvorstellbar. Ich beobachte aber eine positive Tendenz im studentischen Umfeld, sich über solche Sachen Gedanken zu machen und die üblichen Beziehungsvorlagen zu hinterfragen. Auch wenn die meisten meiner Kommiliton/innen lieber eine monogame Beziehung wollen, so können viele nachvollziehen, dass es stabile, liebevolle offene Beziehungen geben kann, welche für die Beteiligten besser sind als das häufig vorkommende Lügen und wieder versöhnen bzw. trennen.

  2. carmen
    30. Juni 2013 um 18:56

    Die Fragen der Interviewerin zum Thema Trennung von Sex und Liebe hinterlassen bei mir den Eindruck, als hätte sie eine Wand im Kopf…

    Man muß zu ihrer Verteidigung sagen, dass wir das Interview schriftlich geführt haben, d.h. dass zuerst die Fragen da waren und dann meine Antworten. Dadurch kommt dieses Beharren auf der Idee monogamer Liebe etwas penetrant rüber, obwohl es so vielleicht nicht gemeint war.

  3. Jorges
    8. Juli 2013 um 04:57

    Hallo Carmen, wirklich sehr schöne Antworten. Ich hätte nicht gedacht, dass man die Wörter „Prostitution“ und „Schutzraum“ in einem Satz unterbringen könnte. :)

    Ich möchte aber einen Aspekt Deiner Argumentation anmerken, den ich problematisch finde und der evtl. bei manchen Menschen auch zu (unterschwelligem) Unverständnis und einer Abwehrhaltung führt.

    Und zwar betonst Du in der Beschreibung Deines Werdegangs, dass es ein gesellschaftliches Normativ für Frauen gibt – nämlich keusch zu sein – und dass es Dir aber gelungen ist, sich davon zu befreien. Daraus kann schnell der Umkehrschluss gelesen werden: Die anderen Frauen, die keinen so richtigen Spaß an unverbindlichem Sex und vielen verschiedenen Partnern haben, finden den eigentlich nur deswegen nicht, weil ihnen noch nicht die Befreiung gelungen ist.

    Die These, die da durchschimmert, ist kurzum: Auf welche Art wir Sex mögen, ist ausschließlich durch „Nurture“ bestimmt. „Nature“ spielt keine Rolle.

    Und ich frage mich, ob das so ist. Oder ob es nicht sein könnte, dass – ähnlich, wie Homo- oder Bisexualität – nicht auch auch angeborener Anteil dabei sein könnte. (Ein _Anteil_ wie gesagt, denn dass es auch Normative gibt, die unsere Sexualität _mit_prägen, steht außer Frage.)

    Mir fällt nämlich auf, dass viele, die ich kenne, in ihren Vorlieben doch sehr konstant bleiben: Wer schon als 18jähriger keine Pornos mochte, schaut sie auch mit 30 nicht; wer früher dazu neigte, „fremdzugehen“ verliert diese Neigung später eher nicht. Es wäre zu einfach, das nur einer fehlenden „Emanzipation“ zuzuschreiben – und irgendwie auch zirkulär, denn man müsste dann ja auch erklären, warum bei den einen Menschen der Wille zum Emanzipieren größer ist als bei anderen.

    Nun kann man über die Nature/Nurture-Frage sicher stundenlang am Lagerfeuer spekulieren, aber welche Relevanz hat das bei der politischen Debatte um Prostitution? Ich versuch’s an einem Gedanken-Beispiel:

    Ich selbst bin heterosexuell. Die Vorstellung, dass mich ein anderer Mann mit seinem Penis anal penetriert, gehört zu den schrecklichsten Dingen, die ich mir ausmalen kann. Dennoch glaube ich anderen (homosexuellen) Männern, dass sie genau bei der gleichen Vorstellung Lust empfinden. Ich gehe dann nicht davon aus, dass „in deren Kindheit was falsch gelaufen sein muss“. Ich kann mir einen Schwulenporno ansehen und muss dann nicht schreiend rausrennen und die „geschändeten Männer“ retten. Oder Gesetze initiieren, die Homosexualität verbieten.

    Das alles kann ich, weil ich eben weiß, dass Homosexualität im Wesentlichen angeboren ist. Dass weder bei mir noch bei Schwulen (oder Lesben) was falsch gelaufen ist, sondern dass wir eben einfach so sind und es nicht ändern können. Und gerade weil wir es nicht ändern können, müssen wir einander so akzeptieren, wie wir sind. (Und es ja auch überhaupt keinen Grund gibt, etwas zu ändern.)

    Um es auf den Punkt zu bringen: Gerade weil hier die Vorlieben der einen gleichzeitig die schrecklichsten Alpträume der anderen sind, hilft das Wissen, dass es sich um eine angeborene Vorliebe handelt.

    Damit braucht man eben nicht mehr zu grübeln „Warum ist das bei mir anders gelaufen?“, sondern wendet sich direkt der Frage zu „Wie gestalten wir die Welt, dass alle darin sich ausleben können, ohne die anderen zu stören?“

    Um weiter beim Beispiel zu bleiben: Seltsam wäre nun, wenn Homosexuellen-Aktivisten immer wieder betonen würden, dass es „heterosexuelles Normativ“ gäbe, von dem sich die Heteros einschränken lassen. Und nur sie die Kraft hatten, sich von den „Zwängen vorgegebener Rollenbilder“ zu befreien. Dass Homosexuelle ja viel emanzipierter als Heterosexuelle seien. Und die armen Heteros die ganzen schönen Optionen noch gar nicht erkannt haben.

    Ich würde sowas als herablassend empfinden, und zu einem gewissen Grad auch als Angriff. Als wenn mein „normales“ Hetero-Dasein minderwertig wäre. Ich hab nämlich nicht nur das Recht, sondern auch die Fähigkeit, selber einschätzen zu können, welche Menschen und welche Form von Sexualität mich anmachen, welche Optionen es gibt und welche ich für mich wahrnehmen will.

    Es wäre schade, wenn Sexarbeiter-Aktivisten auch so herablassend wahrgenommen werden. Die Gefahr besteht aber, wenn man es ausschließlich „Nurture“ zuschreibt, warum die einen Frauen Spaß an wildem Sex und Prostitution haben und die anderen nicht.

    Lässt man aber auch „Nature“, also einen angeborenen Anteil bei der Antwort zu, dann kann man als Zuhörerin sich leicht sagen: „OK, ich kann mir nie und nimmer vorstellen, Prostitution zu genießen, aber sie ist da offenbar anders drauf. Und dass ich da keinen Spaß dran habe, liegt nicht an meiner geistigen Beschränktheit, sondern einfach an meinen anderen Vorlieben. Emanzipiert sind wir dennoch beide.“

  4. Stefan
    9. Juli 2013 um 13:57

    @Jorges:

    Du schreibst „[…] Das alles kann ich, weil ich eben weiß, dass Homosexualität im Wesentlichen angeboren ist. Dass weder bei mir noch bei Schwulen (oder Lesben) was falsch gelaufen ist, sondern dass wir eben einfach so sind und es nicht ändern können.“ – Die Formulierung „falsch gelaufen“ find ich ziemlich daneben. Es ist vollkommen egal, wie die Vorlieben (sexuelle oder welche auch immer) entstanden sind. Sie sollten respektiert werden, egal ob sie eher „angeboren“ oder „anerzogen“ sind. Zumindest solange dabei nicht andere Menschen geschädigt/eingeschränkt werden oder die Menschen sich dabei selbst schädigen – ich denke hier z.B. an Psychostress/unterdrückte Bedürfnisse in manchen klassisch-(schein-)monogamen Paarbeziehungen. Auch falls etwas nicht angeboren ist, ist Andersartigkeit bzw. Abweichung vom Durchschnitt noch längst kein Indiz dafür, dass etwas „falsch gelaufen“ wäre.

    Ansonsten lässt sich deine Argumentation bzgl. (angeblich weitestgehend angeborener) sexueller Orientierung nicht unbedingt übertragen auf … ich sag mal Bindungsverhalten bzw. die Vorstellung, die man von Liebe und Beziehungen hat, weil dafür vermutlich anderes ursächlich ist.

  5. carmen
    12. Juli 2013 um 10:48

    Jorges und Stefan, ich stimme euch beiden weitestgehend zu und es geht mir keineswegs darum, die sexuellen oder auch beziehungstechnischen Selbstentwürfe anderer Menschen zu verurteilen. Aber ich denke, dass es legitim ist und auch zu einer gewissen Emanzipation führen kann, anderer Menschen Entwürfe für sich selbst infrage zu stellen. Denn was einem anderen Menschen gefällt, muß nicht unbedingt das sein, was auch mir gefällt. Dass mir etwas anderes gefällt, heißt wiederum nicht, dass ich physisch oder psychisch krank bin oder dass bei mir etwas „schiefgelaufen“ wäre.

    Inwieweit sexuelle Vorlieben, wie Homo- oder Heterosexualität angeboren sind, kann ich schwer beurteilen. Ich bin nicht homo- oder heterosexuell und weiß nicht, wie es sich anfühlt, nur auf eine einzige Sorte von Geschlecht abzufahren. Ich glaube aber, dass im Kontext unseres Sexualverhaltens viel mehr anerzogen oder sozialisiert ist, als wir gemeinhin denken – gerade wenn es um Fragen der Partnerwahl, des Balzverhaltens, der Bindung oder konkreter Sexualpraktiken geht. Dieser Gedanke führt mich allerdings nicht, wie so manchen anderen, zu der Forderung, dass sich bitte alle „Abweichler“ der „Norm“ anzupassen haben. Im Gegenteil, er führt mich dazu, das Streben nach einer wie auch immer gearteten Norm als Bullshit zu verwerfen und mein individuelles Glück (auch) jenseits der Norm zu suchen. In meinem Falle war das erfolgreich, aber durchaus auch anstrengend, weil ich mich Diskriminierung ausgesetzt habe.

    Nun wünsche ich mir von der Gesellschaft, in der ich lebe, dass sie individuelle Entwürfe akzeptieren und respektieren möge, solange sie konsensueller Art sind – nämlich damit andere, die jenseits der Norm auf die Suche nach ihrem Lebensglück gehen, keine Diskriminierung mehr leiden müssen.

  6. Martin
    1. August 2013 um 18:53

    Wow – was für ein interessantes Interview und entsprechende Kommentare. Bin per Zufall hier im Blog gelandet und freue mich schon weitere Seiten zu lesen. Weiter so!

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